Expert*innentext

Eigentlich möglich

Notizen zum Prinzip Jury

Eine Jury ist eine Gruppe, die gemeinsam Entscheidungen trifft. So einfach.

Worüber habe ich als Jurymitglied schon entschieden?[1]

Best of Styria (Preis), Emerging Artists Dortmund, Spitzenförderung NRW,
Westwind Kinder- und Jugendtheaterfestival, Freie Theaterförderung der Stadt Köln,
Festival Politik im Freien Theater (Programm)

Wann habe ich schon mal eine Jury einberufen?

FAVORITEN 2014 - Förderprogramm “Weitermachen”,
Beinahe: Förderfonds Interkultur Ruhr

Wie oft hat eine Jury schon mal über mich entschieden?

Ungezählt. (Interessant, dass ich das nicht rekonstruieren kann.)

Eine Jury in den Künsten entscheidet über die Bedingungen, wie ein Vorhaben umgesetzt werden kann (Förderungen).Über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit (Programm + Preis). Eine Jury kommentiert durch ihre Entscheidungen den Status des Beurteilten. Sie vergibt Anerkennung, Relevanz, Aufmerksamkeit. Ja, eine Jury urteilt. Sie überlegt natürlich auch, wägt ab, ringt um die Kriterien (wenn es gut läuft) - aber am Ende steht: ein Urteil.

Mein Kollege M* sagt: “Das muss man selbst entscheiden, ob man diese Verantwortung aushalten kann. Klar weisst du nie, ob es die richtige Entscheidung war, dass etwas gemacht werden kann. Oder eben nicht gemacht werden kann. Aber du hast es (mit-)gestaltet. Ich wollte das irgendwann nicht mehr.”

Jurys werden gewählt. Oder berufen. Sie sollen gerechter sein, als wenn jemand allein entscheidet. Weil man sich über Kriterien auseinandersetzen muss, weil das Prinzip des (potentiellen) Widerspruchs Teil des Entscheidungsprozesses sein soll. Jurys haben eine grössere Akzeptanz als Einzelentscheider*innen, die häufig ein bisschen verdächtig erscheinen. Als Felizitas Stilleke, Christian Esch und ich 2013/14 über eine Vergabeverfahren für das Förderprogramm “Weitermachen” nachdachten, war uns z.B. klar, dass es dafür eine Gruppe von Menschen braucht. Wir versuchten, diese Gruppe eher als Begleiter*innen, als Teil der eingeladenen Künstler*innen zu verstehen. So sollte nicht nur ein kritisches Korrektiv unter den Juror*innen entstehen, sondern mit denen, die diese Entscheidungen dann betreffen. Das ist ein bisschen gelungen, ein bisschen nicht.

Gruppen

Versammlung, Kollektiv, Interessengemeinschaft, Gericht,
Konvention, Zwang, Verortung, Konformität

Mich interessieren Versuche, das Entscheider*innenkomitee identisch zu setzen mit denen, die diese Entscheidungen zu betreffen. Das Projekt “Wem gehört die Kunst” hat die Entwicklung möglicher Verfahren im Ruhrgebiet sehr konsequent vorangetrieben. Als Fortsetzung der Entwicklung des Prinzips der gemeinsamen Mittelvergabe vom Netzwerk X. Der Common Ground, auf dem man sich hier trifft, sind die versammelten Absichten aller anwesenden Künstler*innen. Das Verfahren dezentriert auch das Verhältnis von schriftlicher Vermittlung und Begegnung. Die*der Einzelne kann ihre*seine spezifische Form der Projektvorstellung wählen. Das Entscheiden wird hier tendenziell von der bürokratischen in die soziale Sphäre verschoben: man schaut sich gegenseitig in die Augen, man ist sich verantwortlich. Ähnlich funktionierte es auch bei der halbjährigen Umstellung des Spielbetriebs im Zeitraumexit in Mannheim. Unter dem Titel “Artfremde Einrichtung” entschied für diese Zeit eine spontane Bürger*innenversammlung nach einem gemeinsam entwickelten demokratischen Entscheidungsverfahren unter dem interessierten Blick der Kunstfigur “Herrschaft der Kunst” monatlich über das Programm des Ortes. Miteinander wurde verhandelt, in wessen Dienste nicht nur die Bühne, sondern der gesamte Personalapparat für jeweils einen Monat stehen sollte.[2]

Eine berufene Jurygruppe fragt sich auch:

Was ist der Common Ground, auf dem wir uns versammeln - wofür / für wen arbeiten wir? Unmittelbare Antworten beziehen sich auf Pragmatisches: 12 Produktionen auswählen, die repräsentativ stehen für ein Thema, die Entwicklungen in einer Sparte. Eine bestimmte Summe von Geld an möglichst relevante / strahlkräftige / dringende / politische / avancierte / …[3] Projekte vergeben. Eine Grundregel: die Entscheidungen der Anderen mittragen. Wie kann das gehen? Vertrauen ineinander. In die professionelle Erfahrung und Urteilsfähigkeit der einzelnen Mitglieder. Auch auf die Anerkennung der eingeübten Verfahren des Jurierens. Da kann es schnell um Anerkennung und Bestätigung des Common Sense gehen. Eine gewisse Form der Schaffung von Differenz gehört hier dazu. Es ist wichtig, auch Positionen in die Auswahl einzubeziehen, die aus dem Rahmen fallen, um eine gewisse Form von Abweichung flexibel in die bestehenden Ordnungen einzubinden. Kontrolliert werden die Jurys von aussen von den bestehenden Institutionen und von innen vor allem von den Konventionen. Jede Gruppe entwickelt eigene Strategien, diese komplexen Verhältnisse zu steuern oder auszuhalten - und unter Umständen auch noch die Interessen der Künstler*innen mit einzubeziehen.

Und auch wenn vermeintlich klar ist, was es bedeutet, sich zu entscheiden: Eigentlich muss jede Jury selbst Verfahren entwickeln, wie das geht. Auf der Grundlage der von den Auftraggeber*innen vorgegebenen Rahmung, müsste sie sich immer neu über Kriterien verständigen. Wie viel muss, darf, soll man bei dieser Verhandlung als gegeben verstehen? Ich habe selten erlebt, dass eine Jury ausreichend Zeit einplanen konnte für eine Gruppenwerdung, für einen tiefergehenden Diskurs über Kriterien, Ziele und die kritische Verortung des gegebenen Auftrags.

Es gibt Konflikte zwischen Kunstverständnissen, politischen Überzeugungen. Zwischen Styles. Einige sind besser vorbereitet als andere. Einige wissen besser, wie man innerhalb einer sich als demokratisch verstehenden Gruppe seine*ihre Interessen ein-/durchbringt als andere. Und tatsächlich frage ich mich: Geht es um die gerechte Entscheidung? Oder die interessante?[4] Und im ersten Fall: wie soll das gerecht sein, wenn die Wenigen über die Vielen entscheiden und Ressourcen verteilen, deren eigentliche Qualität die Knappheit ist?

Manche Jurys sprechen auch gar nicht miteinander. Einmal hatte man sich ein Punkteverfahren überlegt. Jede*r sass allein an ihrem*seinen Arbeitsplatz und hat nach diesem System ihre Einschätzungen an die Juryverwaltung weitergegeben, die dann gezählt hat und daraus die Entscheidungen umgesetzt. Darin hat sich irritierend klar die Neutralitätsbehauptung manifestiert, die häufig im Begriff der Jury mitschwingt. Dazu gehört auch die repräsentative Besetzung von Kommitees. Die einzelnen geladenen Persönlichkeiten sollen Ausgewogenheit signalisieren, aber auch Glaubwürdigkeit: Viele Institutionen sind stolz, wenn sie besonders erfolgreiche Menschen für eine Jury gewinnen. Das betont die Bedeutung des jurierten Formats und wertet sowohl ihre Institution als auch die ausgezeichneten Personen und deren Projekte auf. Man kann sagen: Jurys stehen sinnbildlich für den Kult der Knappheit. Sie installieren Organe, komplexe soziale Prozesse, repräsentative Foren für die Vergabe des Zuwenig. Sie schlucken dabei natürlich auch Ressourcen[5]. Man kann auch sagen: Jurys minimieren den Schaden, den Eitelkeit und das Bedürfnis nach Wirkmächtigkeit des Einzelnen hervorbringen können. Sie beugen Willkür und Feudalismus vor. Mindestens kreieren sie eine Situation, in der eine Gruppe sich selbst kritisches Korrektiv sein könnte.

Entscheidungen

Kriterien, Verantwortung - wer trägt die - dass eine Jury am Ende auch eine Möglichkeit ist,
Entscheidungen als umeigentlich zu markieren - oder aber gefällte Entscheidungen nicht auf sich nehmen zu können - nicht (an)erkannt zu werden,
Kompromisse, Streit / Konflikt / Divergenz / Uneinverstandenheit, Konsens / Homogenisierung, andauernde Verhandlung

Es gibt einen Jury-Code der Interesselosigkeit. Davon zeugt z.B. die Konvention, das Gespräch zu verlassen und absent von einer Entscheidung zu bleiben, wenn man selbst (auch als Institution) in engen Verhältnissen steht zum verhandelten Projekt bzw. den dahinter stehenden Akteur*innen. Diese Idee, dass man als Juror*in mehr im Dienst einer dritten Sache steht als in dem der eigenen Agenda - ich frage mich, in welchem Maße ich ihr glauben kann. Denn natürlich zieht man Befriedigung daraus, bzw. versteht es vielleicht sogar als politische Pflicht, etwas zu gestalten. Juror*innen sind weder gefeit davor, sich in letzter Konsequenz als moralisch-politische Individuen über ihre eigenen Entscheidungen Rechenschaft abzulegen - noch vor den Strudeln der Profilbildung auf dem freien Markt der (Freien) Künste. In der Kunst-Jury-Arbeit ist ein struktureller Konfliktherd angelegt: zwischen Rechtsprechung und Kuration. Und dann haben wir noch gar nicht angefangen zu diskutieren, was wir unter diesen Begriffen eigentlich verstehen. Ohne eine Veröffentlichung der jeweiligen Bedingtheiten kann eine Jury meines Erachtens nach nicht funktionieren.[6]

Meine Kollegin A* sagt, Jurorin sein heisse für sie: Anwältin sein. Sich als Fürsprecherin für eine bestimmte Art von Verteilungsgerechtigkeit zu sehen. Als Fürsprecherin für ein bestimmtes politisches Kunstverständnis.

Synonyme (Duden)

Preisgericht, Kampfgericht, Schiedsgericht, Begutachter, (Prüfungs-)Kommission, Geschworene

Die Idee der Jury scheint aus dem Gerichtswesen zu kommen. Oder aus dem Sport. Als Juror*innen steht man also in der Tradition eines Ringens um die Gerechtigkeit. Die letzten Endes Teil der Möglichkeit des guten Lebens für möglichst Viele sein soll. Diesen Auftrag kann man ernst nehmen. Sogar so weit, dass man sich weigert, Teil einer Jury zu werden und auf andere Modelle von Entscheidungsfindung hin drängt. Indem man sich u.U. sogar einsetzt für das Überkommen der aktuellen Verteilungsverhältnisse. Die Möglichkeit, diese Veränderungen auszulösen liegen in jeder Jury.

M* könnte sagen: “Aber dieser Idealismus ist schon ziemlich abgenutzt. Die grossen Forderungen werden immer wieder auf einen kleinsten Nenner von vorgeblichen Möglichkeitsräumen zurechtgestutzt. Domestiziert.” A* dazu: “Aber vielleicht muss man trotzdem dran glauben. Weil es vielleicht eben genau das ist, das engagierte Leben.”

Wer sucht die Jury aus?

Ich denke, es liegt nicht nur in der Hand derer, die als Entscheider*innen fungieren, die Verhältnisse an die aktuelle Gestalt der sich darin befindlichen Phänomene anzupassen, sondern auch in der derer, die als passive Subjekte dieser Entscheidungen verstanden werden und schliesslich: sich selbst verstehen. Mit dem Performance-Duo NAF aus Stuttgart zum Beispiele haben wir einfach angefangen, die Kriterien eines guten Antrags noch mal neu selbst zu bestimmen. Texte zu schreiben, wie sie uns weiterbringen, Spass machen, angemessen erscheinen. Freigebig damit zu sein, nach solidarischen Anbindungen zur Künstler*innenschaft zu suchen. Das klappt gut. Ohnehin ist ja immer wieder zu beobachten, dass wenn man einfach seinem Weg folgt - ohne sich unbedingt als Widerständler*in zu denken, sondern einfach eigene Konventionen hervorbringt - dass Platz dafür ist. In diesem Sinne: wir haben es alle in der Hand.[7] Gefragt ist Solidarität auf dem geteilten Grund eines kritischen Miteinanders. Nichts ist einfach gegeben - wir bringen es gemeinsam hervor. Zumindest in der kleinen Welt der freien Künste. Warum nicht viel mehr Menschen mitentscheiden lassen? Eins ist klar: sehr verschiedene Positionen würden darüber ins Gespräch kommen müssen, wie man miteinander, nebeneinander, gegeneinander, füreinander wirken kann.

[1] Transparenz oder Angeberei?
[2] Unter dem Titel “Wem gehört das hier?” haben u.a. diese Projekte einen Workshop bei der Kulturkonferenz Ruhr 2018 gegeben, eingeladen von Interkultur Ruhr.
[3] Ja, hier geht die eigentliche Arbeit los.
[4] Bitte das hier im Kopf behalten für den Konfliktherd!
[5] Damit sind nicht nur finanzielle gemeint - abgesehen davon, dass nach wie vor auch viele Jurys ehrenamtlich arbeiten.
[6] Also, es funktioniert so, aber nicht im Ideal.
[7] Apropos: Antragsprosa! (Ebenso wie meine Kolleg*innen) habe ich wirklich noch nie erlebt, dass nicht alle daran interessiert waren, wie die Künstler*innen denken, welche Sprache sie für ihre Arbeit finden und was genau sie machen wollen. Ich glaube, dass im Antragsschreiben Eigenartigkeit ebenso gefragt ist wie in der Kreation von Arbeit. Und ebenso der Wille, sich irgendwie gegenseitig zu erreichen.

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